Straßenbahn in Frankreich - Nancy

Das Rad neu erfunden - rund ist es diesmal nicht geworden

Die Verantwortlichen der Stadt Nancy hatten bei ihren verkehrstechnischen Entscheidungen wenig Glück. Zuletzt fuhr 1953 eine klassische Straßenbahn in der Stadt, danach setzte man auf Individualverkehr und Busse. In den frühen 1970ern träumte man von automatischen Kabinenbahnen, was sich als nicht realistisch herausstellte.

1980 schickte man Renault-O-Busse auf die Straße, deren Zweisystem-Antrieb sich aber nicht dauerhaft bewährte; daraufhin kaufte man O-Busse von Ansaldo-Breda, die aber so unbrauchbar waren, dass sie nie in den Echtbetrieb kamen und sechs Jahre lang abgestellt waren, bevor sie verschrottet wurden.

Inzwischen war absehbar, dass die ersten neuen Straßenbahlinien in Frankreich erfolgreich waren; der Verkehrsbetrieb wollte dementprechend eine klassische Stahlrad-Tramway neu bauen. Die Politik waren aber anderer Meinung und ließ sich vom brandneuen Bombardierprodukt überzeugen: dem TVR (das Kürzel heißt nur "Transport sur voie réservée", also Transportmittel auf Eigentrasse). Dabei handelt es sich um einen O-Bus, der von einer Mittelschiene geführt wird. Diese Entscheidung ist teilweise nachvollziehbar, da Nancy in einem Talkessel mit starken Steigungsstrecken liegt; eine Straßenbahn hätte aufwendige Kunstbauten erfordert, um diese zu bewältigen.

Nancy hat dann als Tram 1 diesen Bombardier-Duo-Trolleybus eingeführt, der im Stadtzentrum elektrisch betrieben spurgeführt wird und außerhalb oder bei Bedarf auch ohne Schiene fahren kann. Und da das Depot weitab der Strecke liegt hat er auch noch einen Dieselmotor - nicht alles was möglich ist, ist auch sinnvoll... Anfang 2001 wurde eine 11 km lange Strecke quer durch Nancy in Betrieb genommen; es zeigten sich jedoch rasch gravierende Sicherheits- und elektrische Probleme. Nach zwei Unfällen, bei denen das Heck ausgebrochen war, wurde die Betriebsgenehmigung entzogen und die Personenbeförderung untersagt. Im April 2002 war das System dann endlich im Vollbetrieb.

Das konzeptuelle Problem dieser Erfindung zeigte sich bald: Ein Stahlrad mit Spurkränzen drückt von oben auf die Mittelschiene, das Gewicht des Fahrzeugs liegt aber auf den Gummireifen. Je stärker das Stahlrad auf die Schiene drückt, desto weniger Grip haben die Pneus (und desto lauter wird das Fahrgeräusch); und je mehr man den Druck reduziert, desto leichter entgleist das Fahrzeug.


Die Erfahrungen waren dann auch wenig ermutigend:

Geringes Transportvolumen: ein solcher Duo-Trolleybus befördert weniger als ein normaler (elektrischer) Trolley-Bus oder ein normaler Diesel-Gelenkbus.

Geringe Sicherheit: bedingt durch die Leichtbauweise, hat schon ein leichter Anstoß oder das Überfahren eines Bordsteins gravierende Folgen: Bauteile fallen ab, Scheiben zersplittern und können Fahrgäste verletzen.

Laut, teuer, langsam und wenig effektiv: Um überhaupt eine halbwegs sichere Schienenführung zu erreichen, musste der Anpressdruck jeder Führungsrolle auf je 750 kp erhöht werden. Dadurch viel Lärm und viel Abnutzung (am Ende des unten eingefügten Videos zu erleben). Außerdem wird dadurch die Adhäsion der Antriebsräder so gering, dass es bei Steigungen Traktionsprobleme gibt. Die Linie 1 braucht nach Auskunft der Verkehrsbetriebe NANCY für die 11 km lange Strecke 45 min (wenn keine Störungen auftreten!). Über Betriebskosten könne man nichts sagen... Sie ist damit deutlich langsamer als moderne Tramlinien oder auch Buslinien auf eigener Spur.

Alle Fotos entstanden am 13.8.2002.

Die genaue Expertise über die TVR (= Gummitram) in Nancy und Caen beschreibt u.a., dass

- fast alle Systemmängel und Materialfehler sich schon bei den Vorläufern in Mons/Belgien und bei Paris gezeigt hatten,

- dass ein anderes Straßenfahrzeug beim Vorliegen solcher Mängel sofort von der Polizei aus dem Verkehr gezogen worden wäre. Gegen die Beteiligten wären Straf- und Bussgeldverfahren eingeleitet worden.

- dass das gewählte System der Führung durch Mittelschiene erhebliche physikalische und technische Probleme aufwirft, - dass ein sicherer Weiterbetrieb der Fahrzeuge nur unter folgenden Voraussetzungen möglich ist:

a) Die zu engen Kurven in Nancy werden korrigiert.
b) Fahrbahn, Führungsschiene und Führungsrollen dürfen nur sehr wenig vom Soll abweichen. Alle Abweichungen sind sofort zu beseitigen, durch Neubau oder Reparatur.
c) Der Zustand und die Einhaltung der Sollwerte muss ständig kontrolliert werden.
d) Die Fahrzeuge dürfen in kleineren Kurven nicht schneller als 5 km/h (!) fahren.
e) Es werden mehrere Verbesserungen an Fahrzeugteilen und eingebauten Instrumenten durchgeführt.

Diese Maßnahmen würden nicht nur einmalig einen sehr hohen finanziellen Aufwand erfordern, sondern auch den weiteren Betrieb der TVR belasten. Auch für die Fahrgäste wird der TVR immer weniger attraktiv, u.a. wegen seiner geringen Reisegeschwindigkeit.

Nancy mit seinem geführten Trolleybus ("Tram auf Gummireifen") hat damit das langsamste und das teuerste Personentransportsystem aller französischen Stadtverbände ab 250.000 Einwohner. Obendrein sind die Fahrgastzahlen so stark geschrumpft, dass Groß-Nancy auch noch das am wenigsten benutzte Beförderungssystem hat!

Danke an Franz Roski für die Mitarbeit an diesem 2002 entstandenen Beitrag!


Nach etlichen Jahren der Betriebsprobleme hat der Schrecken nun ein Ende: Bis 2021 soll der Spurbus noch durch die Stadt klappern, dann folgt der Startschuss zum Neubau einer klassischen Stahlradstraßenbahn - dachte man. Nancy wäre damit damit dem Weg von Caen gefolgt, dort hat man den Spurbus 2017 verabschiedet und 2019 die Tramway eröffnet.

Leider hat man sich wieder einmal umentschieden: Der Spurbus fuhr bis 12.3.2023 weiter, die Straßenbahn wurde abgesagt; die errechneten Gesamtkosten von mehr als 500 mio Euro sind schwer zu stemmen. Das Projekt wurde gestoppt, obwohl inzwischen der öffentliche Nutzen festgestellt wurde. Nun werden 25 Doppelgelenk-Obusse (Hess LighTram 25 DC) angeschafft, die ab 2024 nach einem Umbau der Bustrassen in Betrieb gehen werden. Im Grunde wäre bereits vor 20 Jahren eine Straßenbahn gerechtfertigt gewesen; die "Notlösung Spurbus" durch ein maximal ähnlich leistungsfähiges System zu ersetzen, bei gleichzeitig gewünschter Reduktion des Autoverkehrs und diversen Stadtentwicklungsprojekten im Einzugsgebiet, kann nicht funktionieren. Aber zumindest steht uns Nancy als Antithese zu zeitgemäßer Verkehrsplanung weiterhin zur Verfügung.


Nachdem die Politiker von Nancy anscheinend unbelehrbar sind, hat man nun ein neues Verkehrsmittel aus dem Hut gezaubert: Eine selbstfahrende Kabinenbahn namens "Urbanloop". Man spricht von etwa 10-20 mio Euro an Kosten; praxiserprobt ist das System nicht, es gibt auch bisher keine Anwendung im Echtbetrieb, obwohl seit Jahrzehnten immer wieder solche Konzepte vorgestellt werden. Ein wichtiger Punkt dabei ist das subjektive Unsicherheitsgefühl in diesen kleinen selbstfahrenden Fahrzeugen.

Bericht auf Huffingtonpost
Bericht auf France3

Netzplan

"La Semaine": un tram nommé (dernier) soupir
(Eine Tramway namens letzter Seufzer)


Die Zukunft der Städte, Seite 161

Lage in Frankreich

Alle Viennaslide-Fotos zum Spurbus von Nancy

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Letzte Änderung: 11.3.2023